Angst nicht zu Wut werden lassen

Grüne: Neujahrsempfang im Bensheimer Haus am Markt mit Direktkandidat Moritz Müller und Omid Nouripour

Bergstraße. Das „Überthema Angst“ und ein flammender Appell für Europa standen im Mittelpunkt des grünen Neujahrsempfangs mit dem außenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktion, Omid Nouripour. Der 41-Jährige mit iranischen Wurzeln widersprach der These von Ex-Außenminister Steinmeier, die Welt sei aus den Fugen geraten.
Beim Empfang, zu dem der grüne Bergsträßer Direktkandidat zur Bundestagswahl, Moritz Müller, sowie der Kreisverband der Grünen gemeinsam mit der Grünen Liste Bensheim ins Haus am Markt eingeladen hatten, betonte Nouripour, die Welt sei für Millionen Menschen sehr viel besser geworden: Die Versorgung mit Trinkwasser, mit Elektrizität, aber auch den Zugang zu Wissen nannte er als Beispiele. Für die Menschen in Europa, räumte er ein, kämen die Krisen der Welt allerdings immer näher.
Die Unsicherheit, die daraus entsteht, führt für Nouripour zum „Überthema Angst“. Sein Appell: „Wir dürfen uns nicht von den Angstparasiten auf beiden Seiten in die Zange nehmen lassen.“ Auf beiden Seiten: Die Rechtsextremen und die Dschihadisten seien aufeinander angewiesen – die einen, um die Angst weiter zu schüren, die anderen, die sich als Hort für all jene verkaufen könnten, die durch rechte Parolen den Eindruck gewinnen, sie seien unerwünscht. Umso wichtiger sei es, dass die Politik in Deutschland die Angst der Menschen ernst nehme.
Der „Stargast“ des Neujahrsempfangs setzte der Kette von Angst, die zu Wut wird, und Wut, die zu Hass wird, ermunternde Beispiele entgegen: von den vielen Menschen, die sich in Deutschland zumeist ehrenamtlich für die Betreuung von Flüchtlingen einsetzen, die in den USA gegen den neuen Präsidenten Trump aufstehen, die in Polen gegen die rechte Regierung protestieren.
Und Nouripour berichtete von Abdur, einem Klassenkameraden seiner ältesten Tochter: Der Oberstufenschüler flüchtete aus Syrien; seine Eltern hängen seit langer Zeit an der Grenze zur Türkei fest, sein Bruder ist verschollen. Abdur will schnellstmöglich Arzt werden. Als er von den Zulassungsbestimmungen für das Studium erfahren habe, sei er zwar im ersten Moment blass geworden. Nach kurzem Innehalten aber habe er gesagt: „Ich schaffe das.“
In einer Welt mit Brexit, Trump, Erdogan und Putin seien die Menschen in Europa mehr denn je auf das Zusammenstehen und die Zusammenarbeit der Staaten in der Union angewiesen. Der EU habe man die „untypisch“ lange Zeit des Friedens zu verdanken, betonte Nouripour.
Grenzen überwinden
Er erinnerte an den Anschlag vom November 2015 in Paris. Zwei der Attentäter seien als Flüchtlinge getarnt über Griechenland und die Balkanroute nach Frankreich gelangt. In Griechenland seien sie den Geheimdiensten zwar aufgefallen, weitergegeben wurden die Informationen aber nicht. „Und das nicht, weil die Griechen böse sind, sondern weil das nicht üblich war.“ Inzwischen gebe es bei der EU einen Koordinator für die Geheimdienste in Europa. Wenn man sich vor Augen führe, dass es aber allein in Deutschland 19 Geheimdienstorganisationen gebe – darunter 16 Landesbehörden -, dann werde klar, dass die drei Mitarbeiter, die dem Koordinator zur Verfügung stehen, bei weitem noch nicht genügen können.
Dennoch sei die Zusammenarbeit über Grenzen unzweifelhaft hinweg der richtige Weg. Die Konsequenz daraus aus Sicht des grünen Außenpolitikers unter dem Beifall der rund 50 Besucher beim Neujahrsempfang: „Lasst die in Brüssel doch mal machen – nicht in allen Punkten, aber in den Bereichen, in denen es uns allen hilft.“
Nicht in die Zange nehmen lassen
Moritz Müller setzt stärker auf Windkraft als die grüne Kreisspitze
Mit einem Parforceritt durch nahezu alle grünen Schwerpunktthemen gab Moritz Müller beim grünen Neujahrsempfang in Bensheim seine Bewerbung ab. Der Bergsträßer Direktkandidat der Umweltpartei für die Bundestagswahl scheute sich dabei nicht, auch heikle Dinge anzusprechen und klar Position zu beziehen. Deutlich wurde das beim Stichwort Windkraft („nicht das beliebteste Thema bei uns“), bei dem die Förderung der Energiewende und der Naturschutz Interessenskonflikte heraufbeschwören.
Müller machte klar: „Ich würde mehr Windkraft bevorzugen, als das der Kreisverband tut.“ Schwerpunkt bei der Energiewende vor Ort sei im Kreis Bergstraße aber ganz klar die Kraft der Sonne, räumte er ein. Die Grünen seien diejenige Partei in Deutschland, die die unterschiedlichsten Interessen vertrete. Deshalb sei es aus seiner Sicht erforderlich, eine neue Gesprächskultur zu etablieren. Die Fakten müssten in den Vordergrund gestellt werden, sagte der 24-Jährige. Für seine Forderung nach stärkerer Einbindung der Jugend in die politischen Entscheidungsprozesse erhielt er viel Applaus von seinen Zuhörern, die weit überwiegend älteren Generationen angehörten. Müller: „Junge Menschen sind schließlich auch viel länger von den Folgen der Entscheidungen betroffen, die getroffen werden.“ Dennoch sei genau ein Abgeordneter des aktuellen Bundestages unter 30. Das müsse anders werden, warb er natürlich auch in eigener Sache.
Zu den Schwerpunktthemen des grünen Wahlkampfes gehört aus Müllers Sicht neben dem Klimaschutz auch die Aufgabe der Integration. Er warb für einen respektvollen Umgang der Kulturen. Dies gelte für die Menschen in Deutschland genauso wie für die Menschen, die hier Zuflucht gefunden haben, betonte er. Die „sogenannte Flüchtlingskrise“ sei zu einem Katalysator für die Angst in der Bevölkerung geworden. Optimistisch stimme ihn aber, dass der große Teil der Bevölkerung wach sei, wacher denn je. Die Hilfe für die Flüchtlinge bezeichnete er als „großartige Leistung des Ehrenamts“.
Die Bergsträßer Grünen sieht Müller derweil am Anfang eines wichtigen Wahljahrs – nicht nur in Wald-Michelbach, wo Matthias Schimpf Bürgermeister werden wolle, und in Bensheim, wo Stadtrat Adil Oyan eine Wiederwahl anstrebe. Sondern besonders mit Blick auf die Bundestagswahl. Es gehe um nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft Europas und seiner Demokratien. Denn während einige unsere Grundwerte infrage stellten, sei ein demokratisch geprägtes Europa „die einzige Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart“. seg
Omid Nouripour
Omid Nouripour wurde am 18. Juni 1975 in Teheran geboren. Im Alter von 13 Jahren kam er mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Deutschland.
Nach der Schulzeit in Frankfurt studierte er deutsche Philologie, Politik- und Rechtswissenschaft, Soziologie, Philosophie und Volkswirtschaftslehre in Mainz.
Als Schüler und Student arbeitete Omid Nouripour in diversen Hilfsarbeiterjobs und später als Mitarbeiter von Europa- und Bundestagsabgeordneten.
Seit 1996 ist Nouripour bei Bündnis 90/Die Grünen aktiv. Von 1999 bis 2003 war er Vorsitzender der Grünen Jugend Hessen.
Seit dem 1. September 2006 ist Nouripour Mitglied des Bundestages als Nachrücker für Joschka Fischer.
Omid Nouripour ist seit Ende 2013 außenpolitischer Sprecher der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag.
Der Grünen-Politiker ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe. seg

Quelle: Bergsträßer Anzeiger, Montag, 30.01.2017
Von Kai Segelken