Menschenrechte sind nicht verhandelbar

Gedenken: GLB erinnerte an die Kirchbergmorde am 24. März 1945 / Bewegendes Plädoyer von Pfarrer Catta
Quelle: Bergsträßer Anzeiger 15.11.2016

Bensheim. Am Sonntag erinnerte die Grüne Liste Bensheim (GLB) wie in jedem Jahr an die Kirchbergmorde am 24. März 1945. In einer bewegenden Rede betonte der katholische Pfarrer Thomas Catta, dass individuelle Freiheit und Menschenrechte nicht verhandelbar seien. „Wir dürfen die Antworten auf Hass und Verachtung nicht nur an die Politik delegieren. Jeder Einzelne ist zuständig.“
„Wir müssen uns treffen lassen“, forderte Catta dazu auf, sich vor rechtspopulistischen und fremdenfeindlichen Tendenzen nicht zu ducken und „klare Kante“ zu zeigen. Gerade in diesen Tagen komme es darauf an, gegenüber Vorurteilen und Ausgrenzung nicht gleichgültig und sprachlos zu reagieren.
Gedenkveranstaltungen seien notwendig, um die Erinnerung an die Vergangenheit und damit eine Sensibilität gegenüber ähnlichen Tendenzen in der Gegenwart zu bewahren. Rund 25 Teilnehmer kamen zum Mahnmal in den Wald. „Es müssten mehr sein“, so Thomas Catta. „Vor allem, weil es viele nicht mehr hören wollen.“

Empathie gefragt

Die Ereignisse in Bensheim drei Tage vor Kriegsende spiegelten auch ein zeitloses Muster in der Geschichte der Menschheit: das Ausnutzen von Macht gegenüber jenen, die als fremd, ideologisch unbequem und anders gelten. „Kleine Beamten fühlten sich groß“, so Catta über die Hinrichtungen ohne ein Gerichtsverfahren. Fremd sei zunächst das, was einem nicht vertraut sei – aber es bleibe fremd, wenn man den anderen nicht verstehen oder kennenlernen wolle. „Dazu gehören Empathie und ein Interesse am Menschen.“ Der Pfarrer kommentierte die Morde in dieser Hinsicht auch als einen Akt der Hilflosigkeit in den letzten Kriegstagen mit deutlichen Bezügen in die Gegenwart.
Auch heute herrsche wieder ein tendenzielles Klima der Fremdenfeindlichkeit und der Angst in Europa und der Welt. Der neue amerikanische Präsident hat angekündigt, Fremde aus dem Land zu werfen und neue Mauern aufzubauen. Die Idee vom „homogenen Volk“, einer „natürlichen“ Familie und einem authentischen Volk werde von vielen Populisten und Fanatikern auf gefährliche Weise geschürt.
Wiederholt zitierte Catta aus der Paulskirchen-Rede der diesjährigen Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels Carolin Emcke: Freiheit sei nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut. „Menschenrechte sind voraussetzungslos.“ Sie können und müssen nicht verdient werden, sagte Emcke. Es gebe keinerlei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird.
Doch die Anstifter halten sich oftmals bedeckt. „Sie lassen hassen“, so der Pfarrer von Sankt Georg. „Das ist diabolisch.“ Auf der anderen Seite gebe es zu viele, dich sich gedankenlos verführen ließen. Doch die Opfer seien nicht allein die Verfolgten und Verachteten: Jeder Einzelne in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft müsse sich von einer solchen Haltung bedroht fühlen. „Bleiben wir selbstkritisch“, mahnte Thomas Catta auch zu einer sensiblen Eigenwahrnehmung. Im Namen der GLB eröffnete Sprecher Michael Krapp die Gedenkstunde, die von der Flötengruppe von Hannelore Schmanke mit Amelie Banasek, Lorena Hanser und Jana Pätzel aus der Musikschule der Stadt Bensheim begleitet wurde. tr

Ermordung wenige Tage vor Kriegsende

Nachdem am 17. März 1945 die amerikanischen Truppen Bad Kreuznach erreicht hatten, bereitete die Gestapo die Räumung ihrer Dienststelle in Bensheim vor. Der größte Teil der Gefangenen, die Mitte März aus einem KZ-Außenkommando bei Lorsch ins Bensheimer Gefängnis gebracht worden waren, wurden vom 21. bis 23. März in Richtung Osten verschleppt.
Am 23. März überschritten die Amerikaner bei Nierstein den Rhein. Am gleichen Tag wurden in Bensheim drei junge Soldaten zum Tode verurteilt und vor den Augen der Bevölkerung zum Wasserwerk am Kirchberg geführt und ermordet. Der Vorwurf war Fahnenflucht.
Am 24. März marschierte das mit Maschinenpistolen bewaffnete Sonderkommando der Gestapo zum Gefängnis, wo nach der Verlesung ihrer Namen 14 Gefangene aus ihren Zellen geholt wurden.
Der Weg führte durch die Wilhelmstraße weiter über die Kirchbergstraße vorbei an der Gestapo-Zentrale in der ehemaligen Taubstummenanstalt. Dort waren am Tag zuvor bereits zwei amerikanische Kriegsgefangene ermordet worden. An der Gabelung Ernst-Ludwig-Straße/Bismarckstraße wollte Alex Romanow flüchten, auch Gretel Maraldo nutzte diesen Moment. Beide wurden von Schüssen getroffen. Gretel Maraldo starb, Romanow überlebte mit einem Wadenschuss.
Die übrigen Gefangenen werden von der Gestapo in den Brunnenweg getrieben. Die Franzosen Eugene Dumas und Lothaire Delaunay, der Niederländer Frederik Roolker, Rosa Bertram, Erich Salomon, Walter Hangen, Lina Bechstein, Jakob Gramlich und drei nicht identifizierte Gefangene werden mit Genickschüssen hingerichtet. Der Pole Johann Goral wird nur verletzt und stellt sich tot. In einem unbeobachteten Moment schlüpft er aus seinem Mantel und rettet sich in den Wald.
Die Morde am Kirchberg und die Erschießung der beiden amerikanischen Soldaten wurden zumindest teilweise gesühnt. Der Leiter der Gestapo-Dienststelle Bensheim, SS-Mann Richard Fritz Girke, sowie sein Stellvertreter Heinz Hellenbroich und die Helfer Franz Karl Stattmann und Michael Raaf wurden von den Amerikanern nach Kriegsende festgenommen.
Am 10. Januar 1947 begann in Dachau vor einem US-Militärgericht der Prozess. Die Urteile wurden am 17. und 18. März des gleichen Jahres gesprochen. Girke, Hellenbroich, Stattmann und Raaf wurden zum Tode durch den Strang verurteilt. Nachdem Gnadengesuche abgewiesen worden waren, wurden sie am 18. Oktober 1948 vollzogen. Tr Quelle Bergsträsser Anzeiger 15.11.16




Gastansprache Thomas Catta zum Gedenken der Kirchbergmorde
Grüne Liste Bensheim, 13.11.2016

Es ist gut, dass es diesen Gedenkstein am Kirchberg gibt,
es ist gut, dass wir hier sind –
gegen das Vergessen,
gegen das Verdrängen der Gräueltaten, die zur jüngeren Geschichte unserer Stadt gehören.
Respekt gegenüber der Grünen Liste Bensheim, die jedes Jahr am Volkstrauertag zum Gedenken auffordert und an diese Stätte einlädt.
Freilich dürften es noch mehr Bürgerinnen und Bürger sein, die diesem Aufruf folgen.
Auch und gerade weil es manche Zeitgenossen nicht mehr hören wollen, ist es wichtig, jedes Jahr aufs Neue zu hören, was geschehen ist, hinzuhören und treffen zu lassen:
Nachdem am 17.März 1945 die amerikanischen Truppen Bad Kreuznach
erreicht hatten, bereitete die Gestapo die Räumung ihrer Dienststelle in
Bensheim vor. Der größte Teil der Gefangenen, die Mitte März aus einem
KZ-Außenkommando bei Lorsch ins Bensheimer Gefängnis gebracht worden
waren, wurden vom 21.bis23.März in Richtung Osten verschleppt.
Am 23.März überschritten die Amerikaner bei Gernsheim den Rhein. Am
gleichen Tag wurden in Bensheim drei junge Soldaten zum Tode verurteilt
und vor den Augen der Bevölkerung zum Wasserwerk am Kirchberg geführt
und ermordet. Der Vorwurf war Fahnenflucht.

Am 24.März gegen 20.00 Uhr marschierte das mit Maschinenpistolen
bewaffnete Sonderkommando der Gestapo zum Gefängnis, wo, nach Verlesung
ihrer Namen, 14 Gefangene aus ihren Zellen geholt und zum Kirchberg getrieben wurden.
Axel Romanow gelang es zu fliehen , Gretel Maraldo wurde beim Fluchtversuch erschossen,
An dieser Stelle wurden vor 71 Jahren ermordet:
Rosa Bertram
Jakob Gramlich
Lina Bechstein
Walter Hangen
Erich Salomon
Die beiden Franzosen Eugene Dumas und Lothaire Delauny
Der Niederländer Frederik Roolker
Sowie drei weitere Gefangene, die nicht mehr identifiziert werden konnten
Johann Goral konnte sich mit einem Streifschuss während der Erschießung entfernen und sich in einem Gebüsch verstecken.
Weitere Ermordungen folgten an anderen Orten…

Frauen und Männer – ermordet ohne Gerichtsverfahren, ohne Urteilsverkündung.
Kleine Beamte fühlten sich plötzlich ganz groß, verübten Selbstjustiz, kosteten ihre begrenzte Macht aus über Menschen, die ihnen ohnmächtig ausgeliefert waren.
Warum?
Aus Hass gegenüber jenen, die nicht in ihre Ideologie passten, ihnen fremd erschienen. Fremd, weil sie jüdischer Abstammung waren, weil sie sich in ihrer politischen Überzeugung nicht dem Nationalsozialismus beugten, weil sie Ausländer waren, weil sie anders, eben irgendwie fremd waren.

Fremd ist, was ich nicht kenne, was mir nicht vertraut ist.
Fremdheit bleibt, wenn ich die anderen nicht verstehen lernen will,
wenn ich keine Empathie entwickeln will.

Fremdheit ist, wenn ich anscheinend ganz anders denke und fühle als die, die ich ablehne.

Welche Reaktionen löst Fremdheit aus?
Distanziertheit, Vorurteile, Wut, Schuldzuschreibung, Ausgrenzung,
Orientierungslosigkeit, Unsicherheit, Eroberungswünsche, Hervorheben der Differenz,
Hilflosigkeit, die zu Fanatismus, zu Aggression und Gewalt führt.

Die 12 Frauen und Männer wurden hier am Kirchberg umgebracht,
weil sie nach Meinung ihrer Schergen Fremde waren und… Fremde stören.

Die Kircherbergmorde – ein Akt der Hilflosigkeit in den letzten Tages des Krieges unter dem Vorwand, ein totalitäres System zu retten, das längst nicht mehr zu retten war.
Ein Akt der Hilflosigkeit, zu akzeptieren, dass der Alptraum, das am deutschen Wesen die Welt genesen soll, zu Ende geträumt war.

„Heute grassiert wieder ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa.
Pseudo-religiöse und nationalistische Fanatiker propagieren die Lehre vom »homogenen Volk«, von einer »wahren« Religion, einer »ursprünglichen« Tradition, einer »natürlichen« Familie und einer »authentischen« Nation“,
so Carolin Emcke, die aktuelle Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels in ihrer Ansprache anlässlich der Preisverleihung in der Frankfurter Paulskirche.

Der jüngste Ausgang der Präsidentschaftswahl in den Vereinigen Staaten hat gezeigt, dass auch dort viele den rassistischen Parolen der Abgrenzung folgen; Abgrenzung gegenüber Muslimen, Farbigen, Homosexuellen, Einwanderern.
Mauern sollen errichtet und „Fremde“ ausgewiesen werden.
Die Angst vor „Überfremdung“ wird geschürt.

Carolin Emcke sagt:
„Sie stehen vielleicht nicht selbst auf der Straße und verbreiten Angst und Schrecken, die Populisten und Fanatiker der Reinheit, sie werfen nicht unbedingt selbst Brandsätze in Unterkünfte von Geflüchteten, reißen nicht selbst muslimischen Frauen den Schleier oder jüdischen Männern die Kippa vom Kopf, sie jagen vielleicht nicht selbst polnische oder rumänische Europäerinnen, greifen vielleicht nicht selbst schwarze Deutsche an – sie hassen und verletzen nicht unbedingt selbst. Sie lassen hassen.“

Fanatiker beliefern die öffentliche Meinung mit ihren Ressentiments und Vorurteilen; erfinden all die kleinen, gemeinen Begriffe und Bilder, mit denen stigmatisiert und entwertet wird.

Ein Fanatismus, der ausgrenzt, beschädigt nicht nur seine Opfer, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen, beschädigt auch uns.
Das wahnwitzige Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt.
Es engt den Raum, in dem wir einander denken und sehen können.
Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Phantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und mangelndes Einfühlungsvermögen sind Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit.
Noch einmal möchte ich Carolin Emcke zitieren; sie sagt:
„Sie wollen uns einschüchtern, die Fanatiker, mit ihrem Hass und ihrer Gewalt, damit wir unsere Orientierung verlieren und unsere Sprache. Damit wir voller Verstörung ihre Begriffe übernehmen, ihre falschen Gegensätze, ihre konstruierten Anderen – oder auch nur ihr Niveau. Sie beschädigen den öffentlichen Diskurs mit ihrem Aberglauben, ihren Verschwörungstheorien und dieser eigentümlichen Kombination aus Selbstmitleid und Brutalität. Sie verbreiten Angst und Schrecken und reduzieren den sozialen Raum, in dem wir uns begegnen und artikulieren können.
Sie wollen, dass nur noch Jüdinnen und Juden sich gegen Antisemitismus wehren, dass nur noch Schwule gegen Diskriminierung protestieren, sie wollen, dass nur noch Muslime sich für Religionsfreiheit engagieren, damit sie sie dann denunzieren können als jüdische oder schwule »Lobby« oder »Parallelgesellschaft«, sie wollen, dass nur noch Schwarze gegen Rassismus aufbegehren, damit sie sie als »zornig« diffamieren können, sie wollen, dass sich nur Feministinnen gegen …Sexismus engagieren, damit sie sie als »humorlos« abwerten können.
In Wahrheit geht es gar nicht um Muslime oder Geflüchtete oder Frauen. Sie wollen alle einschüchtern, die sich einsetzen für die Freiheit des einzigartigen, abweichenden Individuellen.“

Die Antwort auf Hass und Verachtung lässt sich nicht einfach nur an »die Politik« delegieren; für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, dafür sind wir alle zuständig.
Das Gedenken der Kirchbergmorde hier in Bensheim kann uns mahnen:
Menschenrechte sind voraussetzungslos.
Menschenrechte müssen nicht verdient werden.
Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Mensch als Mensch anerkannt und geschützt wird.
Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen.

Was bedeutet das ganz konkret?
Wir dürfen nicht gleichgültig werden.
Gleichgültigkeit trägt zur Ausgrenzung bei und überlässt Fanatikern das Feld.
Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen.
Es gilt, Kante zu zeigen.

Die Auseinandersetzung mit dem Fremden dient dem Eigenen.
Mein Selbst kann nur wachsen durch die Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Fremden. Durch Interesse am Anderen, durch Aufeinanderzugehen, durch den Weg des Verstehens wird mein Selbst, werde ich bereichert.

Freilich, wenn ich das Fremde übernehme, ohne es verstehen zu wollen,
wird es zum Fremden in mir, im Eigenen, und lässt mich mir selbst gegenüber fremd werden.
Mühen wir uns zu verstehen, was uns fremd erscheint, damit es uns bereichert.

Zeigen wir auf die Hassprediger und Populisten.
Zeigen wir aber auch auf uns.
Bleiben wir selbstkritisch:
Wo grenze ich mich ab?
Wo bin ich überheblich?
Wo grenze ich Andere aus, auch unbewusst?
Wo kann ich andere im ihrem Anderssein nicht ertragen?

Fühle ich mich selbst ausgegrenzt?
Was kann ich tun, damit es mir immer seltener passiert?

Wo weiche ich der Auseinandersetzung aus?
Ich möchte schließen mit Carolin Emcke:
„Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.“