Bundesvorsitzender Cem Özdemir auf Wahlkampftour in Bensheim

Umfangreiches Themenspektrum
Keine Lust auf bucklige Verwandtschaft

Von unserem Mitarbeiter Thomas Tritsch

Bensheim. Die Fahrt von der Merkez Moschee im Frankfurter Bahnhofsviertel an die Bergstraße hat etwas länger gedauert. „Wir Grünen sind Hardcore“, erklärt der Bundesvorsitzende gleich nach seiner Ankunft in Bensheim. Aber nicht wegen der eng getakteten Wahlkampftour: „Wir haben mal wieder das dickste Wahlprogramm von allen.“

Umfangreich war auch das Themenspektrum, das sich der Parteichef und Bundestagskandidat im vollen Kolpinghaus verordnet hat. Bildung, Energie, Wirtschaft und Europa. Dazu ein wenig Öko, Soziales und Brandaktuelles wie die Syrienfrage: Özdemir fordert klare Kante von der internationalen Gemeinschaft. „Das muss Konsequenzen haben.“ Gleichsam mahnte er vor übereilten Reaktionen. Man müsse den Bericht der UN-Beobachter abwarten, bis bewiesen sei, dass tatsächlich Giftgas als Massenvernichtungswaffe eingesetzt wurde. Ein Einschreiten Deutschlands sieht er derzeit nicht – allein wegen eines fehlenden Beschlusses der Vereinten Nationen. Hauptaufgabe in Berlin müsse jetzt eine Politik der Deeskalation sein. Özdemir fordert humanitäre Hilfen etwa für die rund 5000 Bürgerkriegsflüchtlinge, die in den nächsten Wochen in die Bundesrepublik kommen werden. Der Grünen-Chef sieht darin kein neues Asylproblem und warnt davor, die relativ moderate Dimension der Aufnahme künstlich aufzuwerten.

Cem Özdemir, 1965 geboren im schwäbischen Bad Urach, ist neben Claudia Roth der männliche Teil der grünen Bundesspitze. Der Sohn türkischer Gastarbeiter ist seit 1981 Mitglied der Grünen. In Bensheim sprach er vor allem über das aktuelle Parteiprogramm. Wahlkampfzeiten. Themen waren untern anderen die ökologische Modernisierung („Weniger verbrauchen, neue Energien fördern“), mehr Europa durch eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie gelebte soziale Gerechtigkeit: Cem Özdemir fordert die Einführung eines Mindestlohns von wenigstens 8,50 Euro und gleiche Löhne für Frauen. Gerade in Hessen klaffe die Schere am stärksten auseinander.

In Bensheim erklärte der erste Abgeordnete türkischer Herkunft, der 1994 neben Angelika Köster-Loßack (GLB) in den Bundestag eingezogen war, seine Auffassung einer offenen Gesellschaft: Er plädierte für eine Modernisierung des Staatsbürgerrechts ohne eine Optionslösung, die aus im Land geborenen und aufgewachsenen Jugendlichen „Deutsche unter Vorbehalt“ mache.
Özdemir will die Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft. In der Debatte über die sogenannte Homo-Ehe wirft er der Union Rückständigkeit vor: „Es ist doch interessant, dass gerade eine konservative Partei, die der Ehe traditionell so zugetan ist, mit gleichgeschlechtlichen Partnerschaften nicht klarkommt.“
Zumutbar sei auch ein Spitzensteuersatz von 49 Prozent ab 80 000 Euro. Dies treffe lediglich zehn Prozent der Bevölkerung, die anderen würden entlastet, so Özdemir im Kolpinghaus. Die erste Einnahmequelle des Staats seien nach grüner Ansicht aber nicht Steuern, sondern eingesparte Euro.

Politische Farbenspiele
Das Betreuungsgeld sabotiere den notwendigen qualitativen und quantitativen Ausbau von Kindertagesstätten, sagte der gelernte Erzieher und Sozialpädagoge. Wie in jedem Wahlkampf waren politische Farbenspiele auch in Bensheim gerne gesehen. Aus dem Publikum kam die Frage nach einer rot-rot-grünen Koalition. Cem Özdemir verwies auf die „größte inhaltliche Schnittmenge“ mit der SPD und darauf, dass sich die Linke bis heute nicht vom DDR-Regime distanziert habe.

Schwarz-Grün nicht utopisch
Über Schwarz-Grün sagte er, dass man diese Option nicht grundsätzlich ausschließen solle – siehe Bensheim, wo er Stadtrat Adil Oyan am Dienstag zwischendurch mit „Bürgermeister“ angesprochen und damit nicht wenigen Gästen einen interessanten Ausflug in die Welt der Fantasie geschenkt hat.

Problematisch an der Union sei, dass man nicht genau wisse, wofür die Partei als Ganzes stehe. Mit Teilen der CDU könne er gut sprechen, mit anderen nicht. Das mache politische Bündnisse nicht gerade leicht. „Außerdem bekommt man immer auch die bucklige Verwandtschaft von der CSU mit.“

Meinungen und Ansichten von Cem Özdemir . . .

. . . zum „Veggie-Day“ in deutschen Kantinen: „Die Grünen wollen niemandem verbieten, Fleisch zu essen. Aber wir wollen, dass es Alternativen gibt. Es geht darum, dass wir alle miteinander schauen müssen, wie wir unseren Beitrag zum Klimaschutz leisten können und zu einer artgerechten Tierhaltung.“

. . . zur ehemals grünen Spezialität Naturschutz: „Bei uns nach wie vor das Hauptgericht. Bei den anderen meistens nur eine Beilage. Jeder Grüne ist qua Amt ein Naturschützer.“

. . . zur Sozialdemokratie: „Ich rede mir die SPD keineswegs schön. Die Genossen bauen manchmal dort Brücken, wo es überhaupt keine Flüsse drunter gibt.“

. . . zum grünen Stadtrat Adil Oyan: „Herr Bürgermeister.“

Schwäbisch als Amtssprache
Herr Özdemir, als Europaabgeordneter hatten Sie sich seinerzeit für den Beitritt der Türkei in die EU eingesetzt. Wie sehen Sie das heute?

Cem Özdemir: Der zweite Teil des Satzes muss lauten: Wenn die Voraussetzungen vorliegen. Das ist entscheidend. Ob dies so ist, wird von der Europäischen Kommission regelmäßig überprüft. Dabei geht es natürlich um Demokratie, Menschenrechte und Meinungsfreiheit. In manchen Fragen hat die Türkei sich weiterentwickelt, in anderen stagniert sie. Aber sie hat sich auch zurückentwickelt, wenn man an die Situation von Journalisten denkt oder daran, wie die Proteste im Gezi-Park von der Regierung niedergeschlagen worden sind. Das muss die Türkei abstellen.
© Bergsträßer Anzeiger, Donnerstag, 29.08.2013