Umgestaltung des öffentlichen Nahverkehrs

GLB-Veranstaltung: Fachleute äußern sich zur Umgestaltung des öffentlichen Nahverkehrs / Bedarfsorientierte Systeme sind kostenintensiv. Mehr Haltestellen, flexible Fahrzeiten

Bensheim. Stadtbusse, die halb leer mit maximal drei oder vier Fahrgästen von A nach B fahren und mehrmals täglich ihre Runden drehen, reißen ein tiefes Loch in den Stadtsäckel.
Anderes Beispiel: Die Rentnerin, die nicht mehr gut zu Fuß ist und sich zum Bergfriedhof hinauf quält, würde alles dafür geben, wenn ein Bus außerplanmäßig vor ihrer Nase halten würde. Oder wenn sie – ohne lange Vorlaufzeit – ein Ruf- oder Sammeltaxi ordern könnte.

Wie sieht die Zukunft auf den Straßen aus, wenn die Schulbusse morgens nicht mehr aus allen Nähten platzen und stattdessen immer mehr ältere Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind? Sollten uneffiziente Stadtbusse zugunsten einer bedarfsgerechten, flexibleren und ökologischen Verkehrslenkung ganz verschwinden? Ein Anruf in der Mobilitätszentrale genügt, und schon geht’s nach Hause, zum Friedhof oder sonst wo hin?

„Diese Vision lässt sich nicht eins zu eins umsetzen“, ist sich Bensheims Stadtrat Adil Oyan sicher, der unterschiedliche Systeme favorisiert. „Aber: Wir sind in der Ideenphase“, plauderte er während einer Informationsveranstaltung der Grünen Liste Bensheim (GLB) aus dem Rathaus-Nähkästchen. Er sprach er erste Überlegungen für eine Attraktivitätssteigerung des Öffentlichen Nahverkehrs in ganz Bensheim an. Eine sich ständig weiter entwickelnde Gesellschaft, der demografische Wandel, aber auch der fortschreitende Kostendruck erfordern veränderte, individuelle und möglichst unbürokratische Lösungen.

Oyan: „Wir müssen heute schon für die Zukunft planen. Es besteht ganz klar Handlungsbedarf.“ Auch die interkommunale Zusammenarbeit dürfe dabei nicht außer Acht gelassen werden. Ein Knackpunkt seien allerdings die Finanzen. So bedauerte Oyan zum Beispiel, dass die Gemeinde Lautertal aus Kostengründen das Ruftaxi-Angebot Bensheim/Lautertal gestrichen hat.
Die Bensheimer Grünen wollen über den Tellerrand hinaus sehen und sich Anregungen von außen holen. Die Infoveranstaltung mit Reinhold Bickelhaupt vom Kreis Bergstraße, zuständig für ÖPNV und Schülerbeförderung, und Michael Vester von der Firma Trapeze in Darmstadt, war allerdings ziemlich dürftig besucht.

Vester ist Vorstandsvorsitzender von Trapeze, einem Darmstädter Unternehmen, das bedarfsgesteuerte, internetfähige Software und ein geografisches Informationssystem für den Öffentlichen Nahverkehr entwickelt. Er ist gleichzeitig Vorsitzender des Vereins ITS „Intelligente Transport- und Verkehrssysteme“, einem Netzwerk hessischer Unternehmen und Einrichtungen.
Seit mehr als zehn Jahren arbeitet er daran, die „Verkehrstelematik“, eine EDV-gestützte Verkehrslenkung und ein bedarfsorientiertes System von Bussen und Sammeltaxis, voranzubringen und „bezahlbare Lösungen“ anzubieten. In Bensheim stellte er die verschiedenen Modelle vor, die einige Kommunen bereits erfolgreich eingeführt haben.
„Ein besserer Service mit mehr Haltestellen und Querverbindungen darf ruhig auch mehr kosten“, lautet Vesters Leitspruch für flexiblere und am Bedarf der Bevölkerung orientierte Verkehrsprojekte. Dienstleister und Subunternehmer sind mit im Boot. Als Stärken des Systems nennt er unter anderem eine optimierte Bündelung der Fahrtwünsche und die automatisierte Disposition der Fahrten.
Hans-Christian Wüstner (GLB) sieht in Bensheim und im Kreis ebenso Handlungsbedarf was eine Neuausrichtung des ÖPNV anbelangt wie die Fraktionsvorsitzende Doris Sterzelmaier. Auch deshalb, weil sich die Kommunalpolitiker demnächst mit der Neuaufstellung des Verkehrsentwicklungsplans beschäftigen.
Reinhold Bickelhaupt sieht die Ist-Situation im Kreis keineswegs rabenschwarz, weiß aber auch, dass es in den kommenden Jahren Veränderungen geben muss. So sei der Kreis Bergstraße mit seinen 22 Kommunen und 103 Ortsteilen nicht vergleichbar mit einer Stadt wie Rosenheim, wo IT-Systeme zur Steuerung des bedarfsgesteuerten Verkehrs erfolgreich eingesetzt würden. gs

Positive Beispiele

Als positives Beispiel aus dem Kreis Bergstraße führte Reinhold Bickelhaupt die Bus-Linie 669 an, die im Dreißig-Minuten-Takt auf der Strecke Bensheim-Alsbach fährt.
Ein Modell, das demnächst auch auf der Linie Heppenheim-Fürth und Lampertheim-Worms eingeführt werden soll.
Die Weschnitztal- und die Nibelungenbahn nach Worms würden behindertengerecht ausgebaut.
Wer eine Jahreskarte im Verbund besitzt, der könne das Ruftaxi kostenlos nutzen.Immerhin nutzten im Jahr 2013 rund 78 000 Fahrgäste das Ruftaxi. Registriert wurden 52 000 Fahrten.
Und dann sagte Bickelhaupt noch etwas: Das erste Ruftaxi in ganz Hessen fuhr vor mehr als zwanzig Jahren im Kreis Bergstraße – und zwar die Strecke Zwingenberg-Rodau. gs

© Bergsträßer Anzeiger, Samstag, 11.07.2015
Quelle: http://www.morgenweb.de/region/bergstrasser-anzeiger/bensheim/mehr-haltestellen-flexible-fahrzeiten-1.2330878