Warnung vor der marktgerechten Demokratie

TTIP – Wirtschaftswissenschaftler und Journalist Wolfgang Kessler berichtet in Bensheim über das Freihandelsabkommen.
70 Zuhörer waren in die Alte Faktorei nach Bensheim gekommen, um zu hören, was Wolfgang Kessler, der Chefredakteur von Public Forum, zum geplanten Freihandelsabkommen TTIP zu sagen hat. Sein Wort hat in den Kreisen Gewicht, in denen nicht nur das Freihandelsabkommen, sondern die Globalisierung insgesamt kritisch gesehen wird. Kesslers Wurzeln sind – wie die von Public Forum – die ethischen Grundsätze der katholischen Kirche. Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler hat unter anderem an der London School of Economics studiert und für den Internationalen Währungsfonds (IWF) in Washington gearbeitet. Als Journalist hat er Spitzenpolitiker wie Angela Merkel, Wolfgang Schäuble und die führenden EU-Politiker in Brüssel aus nächster Nähe erlebt.

In Bensheim stießen seine klaren Worte auf Beifall. Kessler klärte zunächst darüber auf, wie die „Transatlantic Trade and Investment Partnership (TTIP)“ in Gang gekommen ist. Der amerikanische Präsident Barack Obama hatte am 13. Februar 2013 im Stil von Martin-Luther-King (1929 bis 1968) seinen „Traum“ vom transatlantischen Freihandel formuliert. Damit hatte er wenige Wochen so später in Berlin die Bundeskanzlerin begeistert. „Nichts wünschen wir uns mehr“, soll Angela Merkel gesagt haben. Keine Zölle, keine Vorschriften, mehr und billigere Produkte, Wachstum und Wohlstand für alle, das sind laut Kessler die mit TTIP verbundenen Versprechen. Offenbar hätten Obama und Merkel ein Traumbild vor Augen, das an der deutschen Zollunion des 19. Jahrhunderts oder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Mitte des des 20. Jahrhunderts orientiert. „Heute sind in den USA und in der EU nicht die Zölle das Problem. Die Märkte sind gesättigt, es gibt einen Überfluss an billigen Produkten“, sagte Kessler. Die Probleme des 21. Jahrhunderts seien der große Resourcenverbrauch, die Ungerechtigkeiten im Welthandel und die Tatsache, dass die Menschen in den Industrieländern „wie im Hamsterrad lebten“.

Nach Ansicht von Wolfgang Kessler geht es bei TTIP tatsächlich darum, Investitionshemmnisse zu beseitigen, eine neue Liberalisierungswelle auszulösen und Schutzgesetze für Verbraucher, Arbeitnehmer und Umwelt aus dem Weg zu räumen. Diese Absichten würden hinter wohlklingenden Begriffen wie Harmonisierung, Rechtssicherheit und Liberalität versteckt.
Hintergrund

Zu dem TTIP-kritischen Vortrag hatten eingeladen: Attac, BUND, DGB, Grüne Liste Bensheim, Karl-Kübel-Stiftung Bensheim, Nord-Süd-Forum und SPD Bensheim.

„Vorrang für Investoren“ ist nach Ansicht von Kessler Teil einer Strategie, die „die Wirtschaft mächtiger, die Regierungen ohnmächtiger macht“. Er befürchtet, dass die TTIP-Befürworter eine „marktkonforme Demokratie“ anstreben, in der ähnlich wie beim Datenschutz die Kontrollmechanismen versagen.

Sämtliche Befürchtungen könnten zerstreut werden, wenn die EU gegenüber den USA den Mut aufbringen würde, die Verhandlungen abzubrechen.

Ein neuer Anfang müsste nach Ansicht von Kessler zu neuen Zielen führen. Unter dem Leitgedanken „Fair Trade“ könnten die Herausforderungen der Zukunft bewältigt werden. Neue Regeln im Welthandel sollten so formuliert sein, dass Länder belohnt werden, die strenge soziale und ökologische Standards einhalten.

Die Steuerpolitik muss nach Ansicht von Kessler so harmonisiert werden, „dass der Unterbietungswettbewerb aufhört“. Zurzeit funktioniere die globalisierte Wirtschaft bereits so: „Wer Mensch und Umwelt ausbeutet, wird belohnt“. Das transatlantische Freihandelsabkommen würde dieses Prinzip zementieren, meint Wolfgang Kessler.

Quelle: Starkenburger Echo 9. Oktober 2014, Bernd Sterzelmaier