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16.11.2008

Rede zur Gedenkveranstaltung der GLB am Kirchberg



Rede zur Gedenkveranstaltung der GLB am Kirchberg, 16.11.08
von Dr. Johannes Krämer , GLB

(Liebe Anwesende)
Wir stehen hier, um an die schrecklichen Taten einiger Nazis in den letzten Kriegstagen zu erinnern. Auch wenn das, was hier geschehen ist, sicher allen mehr oder weniger bekannt ist, will ich trotzdem die Ereignisse in wenigen Worten hier vergegenwärtigen:
Am Samstag, den 24. März 1945, kurz vor der Auflösung der Gestapo-Zentrale in der Darmstädter Straße, wurde ein Sonderkommando aus 8-10 Mann zusammengestellt, das abends im Gestapo-Gefängnis neben dem Amtsgericht 14 Gefangene aus ihrer Zelle holte und mit ihnen durch die Wilhelmstraße marschierte, die Kirchbergstraße hinauf zur Ernst-Ludwig-Straße und den Brunnenweg zum Kirchberg. Auf der Höhe der Dürerstraße flüchteten zwei der Gefangenen, Gretel Maraldo aus Offenbach und der Russe Alex Romanow in ein Gartengelände. Zwei Gestapo-Männer verfolgten sie, ihre Schüsse trafen Gretel Maraldo tödlich, Alex Romanow wurde verletzt und konnte entkommen. Die anderen 12 wurden den Weg hinauf bis hierher geführt und vor einer vorher schon ausgehobenen Grube mit Genickschuss getötet. Bei den ersten drei Erschießungen erhielt der Pole Johann Goral nur einen Streifschuss, ließ sich in die Grube fallen und konnte bis zur Wiederkehr der Gestapo-Männer fliehen und sich verstecken. Er überlebte. Als das Erschießungskommando nach vollbrachter Untat in die Darmstädter Straße zurückkam, erschossen zwei von ihnen noch zwei US-Piloten, die in der Zwischenzeit eingeliefert worden waren, und verscharrten sie im Garten der Gestapo-Zentrale. Dann setzten sich die Gestapo-Männer in Richtung Odenwald ab. Dienstagmorgen, 27. März, wurde Bensheim von US-Truppen befreit. Das also der Tathergang.

Der Gedenkstein mit der Aufschrift: Den politischen Opfern der Jahre 1933-1945, wurde 1954 von der Stadt aufgestellt. Auf Initiative der Geschichtswerkstatt „Jakob Kindinger“ wurde später auf der Rückseite die Informationstafel mit den Namen der Ermordeten angebracht. Sie sollen hier noch einmal genannt werden:
Rosa Bertram, Erich Salomon und Walter Hangen aus Worms Lina Bechstein aus Kriegsheim Frederik Roolker aus Holland, Lothaire Delaunay und Eugène Dumas, beide französische Kriegsgefangene Jakob Gramlich aus Bonsweiher Drei Männer, die nicht identifiziert wurden.

Die Grüne Liste Bensheim ruft seit den 80er Jahren am Totensonntag zu einer Gedenkveranstaltung wie dieser auf, anfangs als bewusste Alternative zur städtischen Veranstaltung am Kriegsgräberfriedhof.

Ich nahm von Anfang an bei diesen Veranstaltungen teil, trotzdem frage ich mich manchmal, ob es noch sinnvoll ist, an diesen regelmäßig in fast ähnlichen Formen ablaufenden Gedenkfeiern immer wieder teilzunehmen. Was bringt es mir und ebenso allen anderen, die immer wieder den steilen Weg zum Gedenkstein hinauf gehn? Wir kennen doch die Namen der Ermordeten und die einzelnen Stationen ihres Leidensweges; und wer es nicht kennt, kann alles nachlesen. Das heißt doch: Gegen die Gefahr des Vergessens dieser nationalsozialistischen Gräueltaten ist doch hinreichend Vorsorge getroffen – Warum sollen wir also immer wieder die Strapazen dieser Gedenkveranstaltung auf uns nehmen?

Eine mögliche Antwort auf diese Frage könnte man aus dem allgemeinen Bewusstsein schöpfen, dass es gesellschaftlich notwendig ist, auf die Verbrechen des Faschismus immer wieder und überall öffentlich hinzuweisen, zumal faschistisches Denken und Handeln in der Gegenwart immer neue Blüten treibt. Aber dieses allgemeine Bewusstsein reicht mir für meine persönliche Teilnahme als Motiv nicht aus, dazu brauche ich das Erlebnis eigener Betroffenheit.

Diese persönliche Betroffenheit über die zeitliche und gesellschaftliche Distanz hinweg entwickelt sich, wenn ich beim gemeinsamen Aufstieg vom Metzendorfplatz den Brunnenweg hinauf und dann den steilen Pfad zur Stelle der Erschießungen mir ständig vorstelle, was die einzelnen Gefangenen bei jedem Schritt gedacht und gefühlt haben müssen. Ab wann war ihnen ganz bewusst, dass sie in den Tod geführt wurden? Aus welcher Bewusstseinslage heraus versuchten Alex Romanow und Gretel Maraldo die Flucht? Warum gingen die andern in der Dunkelheit weiter, auch wenn sie wussten, dass es ihr Ende ist? Wie hätte ich mich verhalten, immer wieder diese Frage: Was hätte ich getan in ihrer Situation? Angst, Todesangst, letzte Verzweiflung, völliges Ausgeliefertsein – solche Wörter fallen mir nur ein, um diese Bewusstseinslage zu umschreiben. Ich stelle mir vor: Hinter uns, vor uns und an beiden Seiten marschieren Männer mit Maschinenpistolen und mit der Einstellung, diese ohne zu zögern zu gebrauchen, auch gegenüber völlig Wehrlosen. Mich in die Bewusstseinslage dieser Männer hinein zu zwängen, fällt mir schon viel schwerer, ist aber auch notwendig. Seit die US-Truppen über den Rhein sind und Darmstadt kurz vor der Befreiung steht und die sowjetischen Truppen von Ostpreußen her auf Berlin zustreben, wissen sie, wenn sie zu sich noch irgendwie ehrlich sind, dass es mit Krieg und Naziherrschaft, d.h. mit ihrer Herrschaft zu Ende geht. Warum also noch diese letzten Verbrechen begehen? Warum nicht vielleicht daneben schießen oder überhaupt die Teilnahme verweigern? Oder würden die Kameraden dann ihn selbst sofort erschießen? Oder denken sie eher: Na, diese „Drecksarbeit“ muss noch gemacht werden, dann fahren wir los – was danach kommt, müssen andere wissen, die da oben, die Führer.

Unsere persönliche Betroffenheit wird hier vor allem geweckt durch die Identität des Ortes: Genau diesen Weg, den wir eben gegangen sind, gingen am 24. März 45 die 12 Gefangenen mit ihren Henkern. Es ist dies genau dieselbe Erfahrung, die wir machen können, wenn wir die KZ-Gedenkstätten aufsuchen, in Osthofen, Struthof-Natzweiler, Buchenwald, Dachau, Auschwitz und an vielen anderen Orten.

Die Identität des Ortes wäre allerdings unwirksam ohne die vorhergehende oder nachfolgende Information. Man kann sich die Situation umso besser vorstellen, je mehr man über den Ablauf Bescheid weiß. Man kann sich mit dem Bewusstsein der Personen umso intensiver identifizieren, je mehr man ihre Biografie kennt. Dafür sind die Nachforschungen von Dr. Peter Krämer und Dr. Fritz Kilthau, die zu dem Buch: Drei Tage fehlten zur Freiheit, und dessen Neuauflage führten, so wichtig. Seit den 80er Jahren sind in Bensheim und an vielen Orten in Deutschland durch langwierige vielseitige Nachforschungen solche lokalen Verbrechen aufgedeckt und veröffentlicht worden. Vor nicht ganz einer Woche fand am Platz der ehemaligen Bensheimer Synagoge die Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht und zur Diskriminierung und Vernichtung der Juden statt. Auch hier sind durch zahlreiche Veröffentlichungen die Einzelheiten bekannt. Ende Oktober stellte ich mein Buch über die qualvollen Erfahrungen der griechischen Zwangsarbeiter in der ehemaligen Markthalle und im Rüstungsbetrieb Heymann in Auerbach vor. Die Geschichtswerkstatt „Jakob Kindinger“ hat sich zum Ziel gesetzt, die schrecklichen Geschehnisse der Nazizeit immer weiter aufzudecken und entwickelt dazu kontinuierlich den „Antifaschistischen Wegweiser“ weiter. Auch die Geschichtswerkstatt der Geschwister-Scholl-Schule erforscht seit Jahren konkrete Einzelsituationen, in denen das Naziregime seinen Charakter zeigt. In der vor zwei Jahren erschienenen Chronik der Stadt Bensheim wird auch gezeigt, wie das „Offizielle Bensheim“ nationalsozialistisch geformt wurde, so dass solche Taten wie die Kirchbergmorde, die Synagogenzerstörung und alles andere ihren richtigen Rahmen erhielten. Nicht nur die Opfer verdienen unser Interesse, sondern auch die Personen und die Strukturen, die die Opfer in Benheim ermöglichten und erzwangen. So ist es z.B. höchste Zeit gewesen, dass in diesem Jahr ein Mann wie Josef Stoll, der als Heimatdichter, Winzerfest- und Vereinsgründer und Verschönerer der Stadt geehrt wurde, auch als aktiver Nazi wieder ins Bewusstsein gerückt wurde.

In all diesen Veröffentlichungen zeigt sich, dass die 12 Jahre des Faschismus dadurch gekennzeichnet waren, dass einer großen Zahl von Menschen, die Angst hatten - von der Angst, sich frei zu äußern bis zur akuten Todesangst in Millionen von Fällen im Inland wie im Ausland - eine andere Gruppe von Menschen gegenüberstanden, die die Macht hatten, Angst einzujagen, und das Bewusstsein, von dieser Macht rücksichtslos und willkürlich Gebrauch zu machen, ohne Rücksicht auf Gesetz und Moral.

Wenn wir uns in Situationen dieser Zeit hineinversetzen, bleiben wir nicht bei der Angst stehen, denn wir können heute in dem Bewusstsein leben, dass wir nicht Angst haben müssen, unsere Meinung frei zu äußern, und dass wir vor fremder Gewalt durch die Mittel des Rechtsstaats und durch den solidarischen Beistand der Zivilgesellschaft geschützt sind. Wie wertvoll diese im Grundgesetz festgelegten Dispositionen für unser tägliches Leben sind, erfahren wir am stärksten dann, wenn sie versagen wie im Fall von Salar Saremi, ebenso wie in vielen anderen Fällen der Gewaltkriminalität, die wir täglich in der Zeitung lesen können. Bedrohlich werden diese Defizite des Rechtstaats, wenn sie sich in Denkweisen und Handlungen zeigen, die sich bewusst oder unbewusst auf die Nazizeit beziehen. So finde ich es unerträglich, dass es Gegenden und Städte in Deutschland gibt, in denen es ein Risiko ist, sich mit einem schwarzen Freund oder einer Frau mit Kopftuch auf der Straße zu zeigen. Das dürfen wir nicht als Normalzustand akzeptieren.

Es ist in den letzten Jahren viel getan worden, um Einschüchterung und Gewalt in sozialen Abhängigkeitsverhältnissen gesetzlich zu unterbinden, im Verhältnis von Mann und Frau, von Eltern und Kindern, von Lehrern und Schülern, Antidiskriminierungsgesetze in der Öffentlichkeit und in Betrieben. Es kommt nun darauf an, wie stark wir das Prinzip der Gleichberechtigung aller mit uns lebenden Menschen in unserem Bewusstsein verankern können und damit die Gewaltbereitschaft eindämmen. Die Gewaltbereitschaft der Mörder hier an dieser Stelle war entwickelt durch eine Ideologie, die die Ungleichheit der Menschen und Völker predigte und das Töten „unwerten“ Lebens rechtfertigte, das Auslöschen einzelner Menschen und ganzer Gesellschaften im Krieg. Das müssen wir erkennen und zurückdrängen, wo, wann, in welcher Form und bei wem es auch immer auftritt. Gelegenheiten dazu gibt es leider sehr häufig.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


Dr.Johannes Krämer hält die Gedenkrede


Frau Schmanke (r.) und Frau Eggenhofer (l.) gestalteten den musikalischen Rahmen


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